Hermes the Abject
Urban Pilgrims Vienna
Angela Andorrer
Published in Passepartout (Kunstgeschichtliche Schriften, Dänemark), 16. Jahrgang, Nr. 30, 2010
Arglos zeigte ich mich hier, denn ich wurde nicht satt mich ob des Existierens zu wundern. Das empfand der kommunikationsblockierte Landstrich als Kriegserklärung. Und vernichtete mich. Das war ein Leichtes, ich bin leicht zu vernichten. Ich bin ein be- und abgeschriebenes Blatt. – Hermes Phettberg (1)
Abbildung: Urban Pilgrims Wien, blumberg © Andorrer 2007
2007 verbrachte ich ein paar Monate in der Hauptstadt Österreichs, um dort das künstlerische Projekt Urban Pilgrims Wien zu realisieren. Urban Pilgrims sind poetische urbane Extrakte, die mittels verschiedener Methoden zu einer Annäherung an das führen, was einen Ort und die dort lebenden Menschen tatsächlich ausmacht. (2) In diesem Zusammenhang begegnete ich der lebenden Kunstfigur Hermes Phettberg, fleischgewordene Psychopathologie eines Österreichers, bei dem Genie, Humor und Scheitern so nahe beieinander liegen, dass man nicht weiß, ob man lachen, weinen oder einfach nur fasziniert sein soll. Im Folgenden möchte ich meine persönliche Begegnung und Kooperation mit Hermes Phettberg wiedergeben und in Bezug setzen zu dem spezifischen Klima und Gemüt der Stadt Wien, auf deren Bühne meiner Ansicht nach ein Phänomen wie Phettberg überhaupt erst entstehen und gefeiert werden konnte.
Es begann damit, dass Florian, der Kopf des blumberg project space, in dem ich ausstellte, mir gegenüber erwähnte, ich solle für mein Projekt auf jeden Fall Hermes Phettberg kennenlernen. Meine Kenntnisse von Hermes Phettberg beliefen sich zu jenem Zeitpunkt auf bruchstückhafte Bilder eines legendären und fetten Prominenten. Also recherchierte ich. Hermes Phettberg, geboren 1952 unter dem bürgerlichen Namen Josef Fenz, wuchs als Sohn niederösterreichischer Weinbauern im Weinviertel auf und wurde nach einer theologischen Fortbildung Pastoralassistent in der Erzdiözese Wien. Mitte der 1980er Jahre war er Mitbegründer des Vereins Libertine Sadomasochismusinitiative Wien und des Projektes Polymorph Perverse Klinik Wien. Die kirchliche Laufbahn musste er aufgrund seiner offen gezeigten homosexuellen Neigung aufgeben. Anfang der 90er Jahre begann er als exzentrischer Kolumnist, Moderator und Prediger seiner Überzeugungen in Wien zu wirken. Kultstatus erreichte er 1994 bis 1996 als Talkmaster mit seiner ORF-Talkshow Phettbergs Nette Leit Show (3), in der vor allem Wiener Prominente, Wissenschaftler und Angehörige ‚interessanter Berufsgruppen‘ zu Gast waren. Durch unkonventionelle Fragen und die schonungslose Offenlegung seiner Gedanken über die österreichische Anpassungs- und Konsumgesellschaft, die Kirche, seine Dickleibigkeit, seine Minderwertigkeitsgefühle, seelischen Leiden und insbesondere seine Sexualität wurde er rasch exzentrischer Publikumsliebling. Legendär ist die Folge mit dem mittlerweile verstorbenen ‚Opernführer‘ Marcel Prawi, die in eine Diskussion über das Ordnungsprinzip Plastiksackerl ausartete. Nach dem Absetzen der Sendung wurde Phettberg zum mehr oder minder verarmten und verbitterten Sozialhilfeempfänger, lässt sich von Zeit zu Zeit öffentlich auspeitschen und inszeniert medial sein Versagen. Er schreibt für die Wiener Stadtzeitung Falter die wöchentliche Kolumne Phettbergs Predigtdienst, die in Form einer Predigt auf den liturgischen Texten des jeweiligen Sonntags im katholischen Kirchenjahr aufbaut. „Hermes Phettberg ist das längste und aufwühlendste Drama, das ich immer noch Woche für Woche mitverfolge, vermutlich bis zu seinem Tod (und seiner Auferstehung?)“ (4).
Phettberg schlug per email vor, wir sollten in seine Wohnung in die Gumpendorferstraße kommen, ums Eck vom Naschmarkt und vom Theater an der Wien, in dem Mozarts Zauberflöte uraufgeführt worden war. Im Treppenhaus erzählte mir Florian, dass erst mit Hilfe einer Radiosendung – ‚Hermes Phettberg räumt seine Wohnung zamm‘ (5) – die komplett verwahrlosten Zimmer wieder zugänglich gemacht werden konnten. Freiwillige Helfer wateten damals knietief durch Müll und schafften unzählige Kisten Unrat und Zeitungen heraus: seine Wohnung also ein legendäres Phettberg-Universum, in dem der ‚Koloß von Gumpendorf‘ (6) seit mehr als zwanzig Jahren haust wie ein Höhlenbewohner. Er begrüßte uns in der Tür mit weicher, charmanter Stimme. Lange, fettige Haare über tiefliegenden Augen mit durchbohrendem Blick. Relativ klein, fast gnomenhaft und dünn geworden infolge von zwei Schlaganfällen in den letzten Jahren. Er stank stark nach Urin und ungewaschenen Kleidern. Die Wohnung schien relativ aufgeräumt, armselige beige-graue Möbel, abgesehen von einer gigantischen knallgelben Liege mit darüber befindlichen Hängevorrichtungen. In ein paar kleinen Schälchen staubten Nüsse und nicht zu identifizierendes Essbares vor sich hin. An den Wänden Fotos: der nackte Phettberg angekettet, der halbnackte Phettberg in Erwartung von Schlägen, der angezogene Phettberg in einem Fiaker. Der Mutter hat er einen Herrgottswinkel eingerichtet.
Wir plauderten ein wenig und erzählten ihm dann von Urban Pilgrims. Nun bin ich gemeinhin in der Kommunikation weder nennenswert uneloquent noch besonders leicht zu verunsichern, jedoch, binnen zwei Minuten fand ich mich von einem erbarmungslosen Röntgenblick zerlegt, der mir den Stuhl unter dem Hintern wegzog, bevor ich nach Luft schnappen konnte. Phettberg meinte, nun etwas weniger charmant, wir zwei würden nicht zusammenkommen und kritisierte meine fragmentarische Herangehensweise an Wien. Wiederholt meinte er, ich sei aus Bielefeld (die angeblich langweiligste Stadt Deutschlands), und als ich sagte, ich sei noch nie in Bielefeld gewesen und komme aus München, schimpfte er über München. Nachdem wir das Zimmer gewechselt hatten, wurde die Situation etwas entspannter. Hermes erzählte, wie er seine Esssucht, die Hölle seines Lebens, besiegt hatte, schwärmte von dem wunderbar warmen Gefühl, das sich einstellt, wenn jemand auf Dir uriniert, und von einem der schönsten Erfahrungen seines Lebens, die darin bestand, dass ein Mann ein Ei an seinen Eiern aufschlug. Ich hatte den Eindruck, er wollte mich schockieren und aus der Reserve locken, hatte jedoch mittlerweile meine Fassung wieder gewonnen, und als es um Fachübergreifungen von Kunst ging, waren wir sogar einer Meinung. Er war brillant, arrogant, offensiv und zugleich immens zerbrechlich. Seine Worte gemeißelte Drucksprache. Er sei der ärmste Mensch Österreichs. Kein Mensch habe ihn je geliebt. Er würde Florian zuliebe mit einer Sadomaso-Performance bei Urban Pilgrims mitwirken und am liebsten Florians Füße küssen. An dieser Stelle sollte bemerkt werden, dass Florian ein ausgesprochen schöner Mann ist. Dann führte er uns zum Ausgang, verrichtete seine Notdurft bei offener Klotüre und verabschiedete uns mit ungewaschener Hand, jedoch extrem charmant.
Ich war aufgewühlt. Meine Gedanken kehrten am Abend immer wieder zu Phettberg zurück, ich fragte mich, worauf er hinauswollte mit seinem Selbstmitleid und seiner Arroganz. Als ich am nächsten Morgen mit Florian über Hermes diskutierte, war ich erstaunt über das Verständnis, den Respekt, ja die Verehrung, die er Hermes entgegenbrachte. Ich war wütend, da ich es nicht verstand, ahnte ich doch, mehr von Wien erlebt zu haben als all die Zeit zuvor. Offenbar war etwas ausgelöst worden. Also begann ich – ganz Urban Pilgrims style – mit verschiedensten Menschen zu sprechen: über Hermes’ Genie, Intellekt, aber auch sein Leiden, seine Körperlichkeit, seinen Masochismus und über Österreich, Wien und den Katholizismus, mit dem die Kunstfigur Phettberg so stark verknüpft ist.
Die dramatische Ausgestaltung der Figur Hermes Phettberg inkorporiert alle Merkmale des Milieus im niederösterreichischen Weinviertel, einer Jahrhunderte lang von Kriegen heimgesuchten Gegend, die schließlich zum toten Eck vorm Eisernen Vorhang wurde. Hier war, und ist sicher heute noch, der Einfluss der machtvollen, autoritären katholischen Kirche Niederösterreichs am größten. „Er [Phettberg] trägt den Schmerz einer ganzen Gesellschaftsschicht.“ (7) Und Phettberg: „Ich bin ja der Meinung, dass der Name der Region Weinviertel nicht vom Getränk sondern von der Tätigkeit stammt.“ (8) Sein Schicksal ist typisch für die zerrissene Seele des streng katholisch erzogenen Zugereisten. Vordergründig beherrscht er die römisch-katholische Liturgie in einer Perfektion, die man nicht bei vielen Priestern findet. Möglicherweise steigert er sich in eine Jesus-Nachfolge hinein, aber man sollte nie vergessen: Er ist Schauspieler. Und wie viel von dem, was er zeigt, ist tatsächlich wahr? Oder spielt er die Rolle seines Lebens, die Rolle des Josef Fenz?
Hermes Phettberg nennt sich ein fresssüchtiges, seine Homosexualität und masochistischen Neigungen bekennendes Original der Wiener Szene. Er könnte sicherlich überall existieren. Aber in anderen Ländern hätte man vermutlich nie etwas von ihm gehört, oder er wäre vielleicht bereits nicht mehr am Leben. Bezeichnend für die WienerInnen nun ist es, über die eigene Befindlichkeit zu jammern und lamentieren, aber nichts daran zu ändern – im Dialekt auch als ‚Raunzen‘ bezeichnet. Dazu kommen dann die zelebrierte Depression und die ewige Frage nach dem Sinn und dem Tod. Mitunter kann es ja befruchten, sein Leid mitzuteilen, man erfährt Mitleid. Spricht man aber in Wien sogar auf der Bühne über sein Leiden, so wird man geliebt. Macht man das so pointiert, prägnant und vielschichtig wie Hermes Phettberg, dann ist man ein großer Wiener. Da ist die Faszination des öffentlich zelebrierten Scheiterns, also der kathartische Effekt. Ist es nicht wie das vor Augen geführte potentielle eigene Leiden und letztendliche Gefühl der Machtlosigkeit, die solch’ Lust und Schaudern bereiten? Das Kollektiv der medialen Aufmerksamkeit wirkt als Ventil der eigenen Ängste. Und kann man irgendwo in der Welt so grandios scheitern wie in Wien?
Dabei sagt Phettberg: „Ich bin zufällig vor den Scheinwerfer geraten, und dann hat man gesagt, aha, eine spannende Persönlichkeit.“ (9) Er inszeniert sich als der gefallene Retter der Stadt und als ihr Korrektiv. Wien, „dieses irrsinnig kranke soziale Gebilde. Alle begannen mich anzufeinden: die Hippen, die Linken, die Bürgerlichen, die Kirche, die Nazis. Dabei galoppiert bei mir nur eine gewisse Unbedarftheit“ (10). Wo Wien durchtrieben scheint, reagiert er naiv, wo Wien dumpf scheint, funkeln seine Gedanken tiefgründig wie die Bergseen Innerösterreichs. „Und wenn Phettberg aber eines Tages auffällt, dass er doch eigentlich in die Welt gezogen ist, um Mitleid zu ernten, dann kann ihm auch in Wien niemand helfen.“ (11)
Wichtig erscheint in dem Zusammenhang das Beichtprinzip und dessen Missbrauch durch autoritäre Pfarrer. Ebenfalls wichtig der Marianismus (Mutterkult). Phettberg hat ein offensichtliches Desinteresse an Frauen, wenn sie nicht als Mütter oder Partnerinnen von für ihn interessanten oder begehrenswerten Männern auftreten. Im Knabenalter verging sich ein Rauchfangkehrer immer wieder an ihm. Er musste ihm zu Diensten sein. Es sei ihm nicht zuwider gewesen, sagt Phettberg. Später ließ er sich mit Vorliebe anketten und auspeitschen. Und hoffte dabei auf versaute, sadistisch veranlagte Jeansboys, ein Thema, das er bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausbreitet. Er gibt einen tiefen Blick in sein Innenleben, das den geradezu unglaublichen Niedergang eines enorm talentierten Menschen nachvollziehbar macht.
Die Lust am Sich-zur-Verfügung-Stellen ist eine Neigung, die jeder von uns (mehr oder weniger) als regelnden Antagonisten zu Dominanztendenzen in sich trägt. Das masochistische Dilemma der WienerInnen hat neben der Kirche nach wie vor viel mit dem Kaiser und dem Jahrhunderte lang absolutistisch geprägten Weltbild zu tun. Sieht man repräsentative Auftritte des heutigen niederösterreichischen Landeshauptmanns, des Ministerpräsidenten von Niederösterreich, so erinnert das tatsächlich stark an den Repräsentationsgestus eines Kirchenfürsten. Kann man die öffentlichen Geißelungs-Inszenierungen Phettbergs verstehen als Mittel zum Zweck der Selbsterhöhung? Zelebriert er in wiederkehrender Ritualhaftigkeit die im kulturellen Gedächtnis des Landstrichs tief verankerten Mechanismen christlich-absolutistischer Demut und Devotheit? Vereinfacht formuliert: Seht her, wie schlecht es mir geht, bitte liebt mich! Mama, Papa (Österreich, Gott, Kaiser, Welt etc.), ihr liebt mich ja nicht. Schaut her, wie schlecht es mir jetzt geht. Bestraft mich. Tretet mich, damit ich wenigstens etwas fühle. Ich weiß, das ist schlecht/böse. Aber ist es nicht christlich – haben wir das nicht gelernt – zu leiden? Ich leide mit für euch. Ich übe mich in Demut. Das ist mein Geschenk an euch. Ich trage Eure Last.
Phettbergs Sadomaso-Inszenierungen als konsequente Inszenierungen katholischer Geißelungsbilder oder Verständnisfehler? In sadomasochistischen Ritualen geht es unter anderem darum, persönliche und körperliche Grenzen auszuloten, für die noch keine Form in der eigenen Realität gefunden wurde. Phettberg realisiert seine masochistische Homosexualität mit einer grausamen Konsequenz, indem er durch völligen Verzicht auf Hygiene und durch eine Pflege der körperlichen Hässlichkeit jeden Kontakt zu der von ihm geliebten SM-Szene unmöglich macht, so dass er im Prinzip darunter leidet, nicht leiden zu dürfen. Seinen Hang zum strengen Odeur erklärt er damit, dass er sich gerne schnuppere. Wenn dieser brünstige Duft von den Schenkeln aufsteige, erfülle ihn das mit Lust. (12) Geruch, Nahrung, Exkremente, Außen und Innen, Körpergrenzen, Privatheit und Öffentlichkeit verschwimmen, und der Körper wird im Sinne Bachtins zum grotesken, der Welt gegenüber unabgeschlossenen Leib. Sein Drama trägt er über Essen und die Medien – den Volksleib – aus. Sieht man alte Filmaufnahmen von ihm, ertappt man sich bei dem Gedanken an das Beuyssche Fett (13) und wundert sich, was für ungewöhnlich kluge Worte mitunter aus dieser Fettmasse kommen. Phettberg befindet sich in einem destruktiven Kreislauf der Sucht: Fressen und Hungern. Er schwankt zwischen 80 und 150 Kilo. Man kann hier im freudianischen Sinne von Oralfixierung sprechen:die Welt probieren, indem man sie in den Mund nimmt und verschlingt. Mir gegenüber sagte er: „Die Esssucht war meine Hölle“. Vor seinem starken Gewichtsverlust hatte er einen Zuckerschock, später akutes Nierenversagen. Phettberg versucht verzweifelt über die Welt zu triumphieren, indem er sie verschlingt, und wird doch selbst von ihr und den Medien verschlungen. „Einerseits ist er der verschlingende, siegreiche, lebende, werdende, zeugende Körper. Andererseits der zerstückelte, verschlungene und damit sterbende Körper, kurz: der groteske Körper als Doppelleib konzipiert.“ (14)
Und wenn er über Fäkal- und Urinalpraktiken und -phantasien obsessiert, liegt wieder die Assoziation mit Sigmund Freud (also auch etwas typisch Wienerisches) nahe, der die anale und genitale Phase erstmals bezeichnete und einer öffentlichkeitsfähig gemacht hat. Denn auch das ist Phettberg: kindlich unbefangen, lustvoll, oral und anal fixiert und in der ödipalen Sprache befangen.„ Durch die Ausscheidung von Kot nimmt der Mensch ebenfalls von der Welt Besitz, indem er sie verarbeitet und sie als etwas Eigenes an die Natur wieder zurückgibt. In Form des Kots hat der Mensch die bedrohende Materie in den Griff bekommen, der Kot als Produkt eines zum Verschlingen komplementären Vorganges ist gewissermaßen ihr Symbol. Das als Dünger fruchtbare Exkrement tritt aus dem Körper aus, ein der Zeugung vergleichbarer Vorgang.“ (15)
So vereinen sich in Phettbergs monströsem Körper zugleich Dramen von Grenzsetzung und Grenzauflösung und das Dilemma zwischen der Sehnsucht, den Körper zu zerstören, und katholischem Suizidverbot vegetieren zu müssen. Phettberg ist ein todessehnsüchtiger Mensch, der an sich selbst und an seinen Widersprüchen gescheitert ist. Einer, der die uns allen innewohnende ‚Not an Wärme‘ nach außen artikuliert. „Das Telefon stört mich. Und ich verliebe mich in den Anrufer. Dann aber legt der Anrufer auf und ich muss meine Trümmer neu zusammenklauben“. (16) Aber wenn seine Einsamkeit eine öffentliche ist, ist sie ja eine als solche gesetzte, ist sie eine Kommunikationsfigur, die wiederum mit dem Künstler-Ego als Figur des Künstlers operiert und damit in einer ganz bestimmten historischen Konstruktion steht.
Faszinierend bleibt jedoch trotz allem die hundertprozentige Hingabe an das durch sein Zulassen und Nichteingreifen herbeigeführte Ausgeliefertsein an sein Schicksal. Vielleicht ist die Kompromisslosigkeit, mit der Josef Fenz die Rolle des Phettberg verkörpert, sein eigentliches Drama. Man fragt sich, ob seine Haltung nicht möglicherweise eine kindliche ist, was dann wieder an das Biblische – werdet wie die Kinder – erinnert. Er fordert die totale Aufmerksamkeit und Liebe, ohne selbst etwas geben zu wollen. Kann er denn selbst lieben, wenn er sich hasst und in einem von ihm selbst herbeigeführten Zirkel der Lieblosigkeit, Einsamkeit und des Benutztwerdens ohne Liebe kreist? Hat er nicht möglicherweise insgeheim den Drang, andere mit sich zu verschonen? Vielleicht ahnt er unbewusst, dass er gar nicht fähig ist zum Lieben, und vielleicht hat seine Offensivität nur den Zweck, sich die Bestätigung der Ablehnung zu holen: „Das Gefühl einen Menschen so sehr zu ersehnen und [zu] wissen es nie zu erreichen, dieser Schmerz brennt so schön wie solides Sodbrennen“. (17)
Neben dem Leid, das ihm die Säfte, Sekrete und die Sucht auferlegen, sitzt in ihm ein hochsensibler, blitzscharfer Geist, wundgescheuert an den Zeitgenossen, die sich an ihm spalten. „Ich bin schwul. Ich bin hässlich. Ich bin ein Genie.“ (9) – dieser Dreisatz Truman Capotes könnte auch von Phettberg stammen. Oder handelt es sich hier um eine avantgardistisch zelebrierte Geniefigur in einer traditionell glorifizierten männlichen Kultur des Scheiterns? Er instrumentalisiert sein Umfeld. Wer ihm nicht Aufmerksamkeit gibt oder zur Befriedigung dient, den serviert er eiskalt ab. Die dann entstehende Arroganz ist bei ihm auch eine Art Angstbeißen. Er lässt in der Gesellschaft buchstäblich die Hosen runter. Aber wer dann nicht sofort begeistert klatscht und ihm huldigt, vor dem fletscht er die Zähne. Eben weil er eigentlich von jeher ohne Hosen dasteht. Das erinnert wieder an das frühkindliche Ringen um Aufmerksamkeit in einem Stadium, in dem das Kind sich Zuwendung noch nicht verdienen, sondern nur einfordern kann. Applaudiert man Phettberg nicht im Zustand seiner Selbstentblößung, hat er das Gefühl, nicht um seiner selbst geliebt zu werden. Das Publikum jubelt der Kunstfigur Hermes Phettberg zu – aber Josef Fenz kennt eigentlich niemand. Der ist auch nicht weiter interessant. Wann kehrt Josef Fenz zurück aus der Rolle seines Lebens? „Die eigentliche Tragödie ist, dass ich keine Freundschaften entwickelt habe“, sagt er resigniert. Denn „eine Freundschaft nimmt sich als Freundschaft wahr, wenn beide das Einrasten der Freundschaft verspüren. Dieses Geräusch habe ich nie gehört, diesen satten Klang“ (18).
Die Urban Pilgrimage hatte unsan jenem heißen Sonntag im Juni 2007quer durch Wien geführt, über Bordell, Swinger Club bis zum angeblichen Tor zur Unterwelt unterhalb der Urania, wo der Wienfluss in den Donaukanal mündet. Ich erzählte hier von der damit zusammenhängenden Legende, dass die Erde mit einem Netz von Punkten, Linien und Strömungen überzogen sei, vergleichbar dem menschlichen Organismus in der Akupunktur. Wien aber sei – international in esoterischen Kreisen anerkannt – eine Art Katalysator zwischen Ost, West, Nord und Süd. Hier konzentrieren sich angeblich globale Strömungen und ‚Interessen geistiger Kräfte‘, denen wir ebenfalls angehören (als mir Oliver Stummer im Sommer 2007 davon erzählte, dachte ich unwillkürlich an den einflussreichsten Mann des 20. Jahrhunderts, diesen berühmt-berüchtigten österreichischen Amateurmaler, der in Wien in einem Hinterhaus in der Stumpergasse gewohnt hatte, 10 Gehminuten von Phettbergs Wohnung entfernt. In diesem Hinterhaus hatte ich sogar einmal übernachtet, bei einer Freundin…). Von Süden kommend, dem Wienfluss folgend, laufen also angeblich zwei Welt-Haupt-Energieströme in parallelen Mustern, was offenbar sehr selten passiert: eine geistig/luftige Strömung und ein körperlich/erdiger Hauptstrom. Und diese zwei Linien tauchen dann an der Urania gemeinsam ab und erst wieder in Bosnien auf. Ob man nun daran glaubt oder nicht, WienerInnen lieben diese Geschichten, und in der Tat hat die Gegend um die Urania eine intensive Ausstrahlung. Ich forderte die Pilger zur besonderen Wachsamkeit auf, insbesondere bei blitzartigen Phänomen, denn angeblich waren genau an dieser Stelle schon Menschen verschwunden. Es waren Fischer dort, die vielleicht gar keine Fischer waren, sondern Agenten und Wächter des Tores zur Unterwelt. Wir hörten ‚Indoktrination‘und ‚Ouverture‘ von Blixa Bargeld und begaben uns mit diesen Eindrücken zum Projectspace blumberg zurück.
Und da hing er. Florian hatte eigens einen eigenen Haken und eine Kette für ihn geschmiedet. Phettberg hatte stark abgenommen, sein Fleisch hing wie Lappen herunter und er erweckte von außen fast den Eindruck einer zweidimensionalen Pappfigur. Wir waren berührt, teils schockiert. Das war das Bild des Leidens, des Gekreuzigten, ja, des Elends.
Wir setzten uns erst in Entfernung, dann näher. Man redete wenig, die Stimmung war besonders. Irgendwann bat Phettberg darum losgekettet zu werden. War ganz zahm, demütig, sanft. Er lag da, wollte getreten werden und Thomas, einer der Urban Pilgrims, ließ sich auf ihn ein: „Später was ausprobiert, was ich vom Massieren als recht faszinierend empfand – mit meinen Händen etwa einen Zentimeter von der Hautoberfläche ohne Berührungen zu berühren. Irgendwie eine ganze und eine halberte Sache gleichzeitig. Hermes Phettberg leckte meine Stiefel (war ihm ein dringlicher Wunsch), auf dem Rückweg vom Pissoir bot ich ihm eine Handvoll warmen Urin zur Labung, er legte sich zu meinen Füßen – alles Details, zu denen mir Parallelen aus der katholischen Liturgie einfielen (vor allem aus der Karwoche), was ich am Rande anriss. Wir sprachen kaum miteinander. Es war mehr Begegnung. Vorspiel ohne Vollzug. Vielleicht aus seiner Sicht. In der Küche dann die Resignation, er stockschwul und ich hetero. Ich wollte das aber nicht als Spiel verstanden haben, sondern als Zuwendung, nah und distanziert zugleich.“ (18) Und irgendwann meinte jemand, Hermes Phettberg sei eigentlich das wahre Tor Wiens zur Unterwelt.
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(1) http://www.phettberg.at/, Startseite (2010)
(2) Urban Pilgrims sind prozessionsartige Ausflüge, maßgeschneidert für eine Stadt, mit kollektiven Gesten, Utensilien, Snacks, Sound, Musik und Begegnungen. Im Vorfeld und parallel dazu entstehen eine Online-Umfrage über Legenden und persönliche Erlebnisse der Stadt und kontinuierlich wachsende Bild- und Text-Archive; www.urbanpilgrims.org.
(3) Translated from Viennese dialect: Phettbergs Nice People Show.
(4) Franky Ablinger (monochrom) in einer email vom 14.03.2008.
(5) Fritz Ostermayer, Hermes Phettberg: ‚Hermes Phettberg räumt seine Wohnung zamm‘. Die legendären Musicboxinterviews von 1991 und 1994, Edition selene 1996.
(6) Wiener Volksmund.
(7) Marion Holy in einer email vom 14.03.2008.
(8) Hermes Phettberg, in: ‚Nette Leit Show‘, ORF Talkshow, Regie Kurt Palm, Sept. 1995.
(9) Markus Völker, ‚Puh‘, taz, 11.01.2003.
(10) Ebd.
(11) Marion Holy in einer email vom 14.03.2008.
(12) Markus Völker, ‚Puh‘, taz, 11.01.2003.
(13) ‚Phettberg‘ = wörtlich ins Englische übersetzt: Fatmountain, mit altertümelnderSchreibweise ‚ph‘ statt ‚f‘.
(14) Peter von Möllendorff, Grundlagen einer Ästhetik der alten Komödie: Untersuchungen zu Aristophanes, Gunter Narr Verlag 1995, S. 79.
(15) Ebd., S. 78.
(16) Markus Völker, ‚Puh‘, taz, 11.01.2003.
(18) Hermes Phettberg, in: ‚Nette Leit Show‘, ORF Talkshow, Regie Kurt Palm, Nov. 1994.
(19) Markus Völker, ‚Puh‘, taz, 11.01.2003.
(18) Thomas Heinisch in einer email vom 17.03.2008.