Körperbilder der Landschaft

Eine Einführung in die Handscapes von Angela Andorrer

von Ramón Reichert

 Landschaften tauchen dort auf, wo die Länder auf bestimmte Weise entgrenzt werden: Sie überschreiten nicht nur die Orte ins Ortlose, die Wege ins Weglose, sondern sie transzendieren die Beschränkungen auf das Nahe und Enge, Niedrige und Flächige, um sich, über die Horizonte hinweg, der Ferne zu, der Weite, der Höhe, der Tiefe zu öffnen.
Hans-Dieter Bahr, Landschaft. Das Freie und seine Horizonte

In ihrer Werkreihe Handscapes setzt sich Angela Andorrer mit den kulturellen Bedingungen von Körperlichkeit in Kunst und Wissenschaft auseinander. In der Reflexion ihrer künstlerischen Arbeit spricht sie von der Hand als einem ‚Zeichenträger‘ und verweist damit darauf, dass in der abendländischen Denktradition bis in die Gegenwart die Hände als ein Wesensmerkmal des Menschen geltend gemacht werden. Seit der antiken Philosophie firmiert die Hand als ein privilegierter Ort der handwerklichen Menschwerdung. Nach Aristoteles sind die Menschen die klügsten Lebewesen, weil sie ihre Hände gebrauchen können. Für ihn stellen daher die „Hände das Werkzeug aller Werkzeuge“1 dar. In der Anthropologie der Gegenwart zählt die durch den aufrechten Gang befreite Hand zum zentralen Wesensmerkmal der Menschwerdung. Für Kulturanthropologen wie André Leroi-Gourhan wird diese Geburt der Hand als Greif- und Werkzeughand zum Ausgangspunkt des homo faber und seines instrumentellen Weltbezugs.2 Vor dem Hintergrund dieser Diskurstradition gilt die Hand als ein „Mittler zwischen den Welten“3 und wird bis heute als Ermöglichung der zivilisatorischen Entwicklung der menschlichen Kultur und Technik angesehen.

Die Handscapes von Angela Andorrer rücken von dieser Vorstellung der Hand ab, die in ihr nur ein Werkzeug der Menschwerdung sieht. Anstelle des instrumentellen Bezugs zum Körper als Diener des Geistes rücken sie das Körperliche und seine genuine Ästhetik in das Zentrum ihrer künstlerischen Praxis, die eine reflexive Auseinandersetzung mit der Hand als dem Medium des Menschlichen ermöglichen kann. Die Handscapes machen aus der Hand einen Bildträger. Auf die Hände wird kein beliebiges Bild projiziert, sondern die physische Materialität der jeweiligen Handinnenflächen schafft die Bedingungen der Möglichkeit des Bildhaften. In diesem Sinn führt die Künstlerin einen Dialog zwischen den materiellen Gegebenheiten und den Möglichkeiten der künstlerischen Intervention. An dieser Schnittstelle entstehen die Landschaften der Hände, die mit Hilfe spezifischer kartographischer Techniken und Methoden von der Künstlerin in ein eigenständiges Bild übersetzt werden. Doch die Betrachtung der Hand als Landschaft ist kein neues Phänomen und muss erst in ein neues Fragen überführt werden.

In der frühen Neuzeit des 15. Jahrhundert wird die Hand als gottbestimmte Natur des Menschen angesehen. Mit der Chirognomik (auch: Chiromantik), der Handlesekunst, die Handlinien als Ausdruck innerer Wesenseigenschaften deutet, wird die individuelle Hand bereits früh in einen Diskurs der topografischen Vermessung des Lebens übersetzt – etwa, wenn es darum geht, die zukünftigen Entwicklungen des Lebens anhand von Schicksalslinien voraussagen zu können.4 Die chirognomische Schicksalsdeutung verwendet dabei eine Vielzahl geografischer und topografischer Metaphern, mit der sie bestimmte Muster klassifiziert und sich einen wissenschaftlichen Anstrich verleiht. Die Weissagungsdiskurse, welche die Handinnenflächen als individuelle Autorschaft des Lebens definierten, haben damit einhergehend erstmals eine Topografie der Hand entwickelt und dabei erstmals Metaphern der Kartografie und der Geometrie in die Diskurse der biografischen Bilanzierung und Prognostik eingeführt.5

Die Handscapes von Angela Andorrer distanzieren sich von den esoterischen Lektürepraktiken der Chirognomik; sie rekurrieren vielmehr auf unterschiedliche Visualisierungstechniken, die bei der Herstellung von kartografischen Wissensräumen verwendet werden. Ohne jede Bevorzugung changiert Andorrer zwischen unterschiedlichen Raumrepräsentationen. Sie verwendet Satellitenbilder und daraus abgeleitete Satellitenkarten, um mit intensivierten Farben Bildaussagen zu unterstreichen („Falschfarbensatellitenbilder“). Sie rekurriert auf Luftbildkarten, um mit Maßstabsgrößen zu experimentieren und macht damit meines Erachtens auch auf die militärischen Kontexte der Aufklärungsflüge mittels Flugzeuge und Drohnen aufmerksam.6 Sie übernimmt Visualisierungstechniken von geologischen und geomorphologischen Karten, bei denen einzelne Formen unterstrichen oder hervorgehoben und sie arbeitet auch mit Reliefkarten, bei denen Oberflächenstrukturen und Terrain sichtbar gemacht werden kann.

Die Vielzahl der bei den Handscapes verwendeten Visualisierungsmodelle zeigen auf, dass die Hand als historisches Aufzeichnungs-, Speicher- und Verbreitungsmedium von Erkennungsmerkmalen, Identifizierungsprozeduren und Vermessungstechniken angesehen werden kann. Folgerichtig kann die menschliche Hand nicht mehr als unvermittelter Ausdruck von persönlicher Einzigartigkeit und individueller Nähe angesehen werden. Wenn die Hand als eine historisch produzierte und sozial konstruierte Körperkultur geltend gemacht wird, dann verweisen ihre Landschaften weniger auf natursprachliche Unschuldsmetaphern, sondern vielmehr auf die Techniken der Rhetorik, den Körper als Landschaft zu naturalisieren. Wenn die Handscapes mit unterschiedlichen Raumrepräsentationen experimentieren, dann tun sie es, um ihr historisches und politischen Verhältnis zur kulturell konstruierten Landschaft der Kartographie und Topographie unter Beweis zu stellen. Insofern ist der Territorialisierung der Hand immer auch ein politisches Moment eingeschrieben.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Geschichte der Hand als eine Geschichte ihrer medialen Ermöglichung und gesellschaftlichen Kodierung, die sich in den unterschiedlichen Darstellungen des Gesichts widerspiegeln.Der wissenschaftliche Blick auf die Hand als Identitätsausweis des Individuums wird mit den ersten Erfindungen zum Fingerabdruckverfahren etabliert. Der britische Sozialwissenschaftler und spätere Wegbereiter der Eugenik, Francis Galton (1822-1911), hat die biometrische Vermessung der Fingerspur entwickelt, die bis heute noch weitgehend von Polizeibehörden als Identifizierungsmittel verwendet wird.7 Alle erwähnten Verfahren wenden topografische und kartografische Deutungsmuster an, um individuelle Lebensgeschichten natürlichen Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen. In diesem Sinne wird die Hand zum positivistisch gewendeten Medium des Menschen definiert: in ihren Innenflächen versammelt sich aussagekräftig eine reliefartige Landschaft, die kollektiv verbindliche Mustereigenschaften aufweist, mit denen spezifische Befindlichkeiten, Zustände und künftige Entwicklungen prognostiziert werden können. In diesem Sinne war die Hand immer schon ein umkämpfter Schauplatz einer topografischen und kartografischen Vermessung des Menschen.

Die Handscapes von Angela Andorrer reflektieren diesen historischen Wissensbestand der menschlichen Hand und versuchen auf unterschiedlichen Ebenen, die Hand als einen neuen Erfahrungsschatz persönlicher Aneignung und Reflexion zu thematisieren. Dabei dekonstruiert sie den quasi-wissenschaftlichen Anspruch, aus der Hand Wesensmerkmale von Personen herauslesen zu können und verwandelt andererseits die Hand in ein Medium der persönlichen Selbsteinschätzung, wenn sie die Kartografen auffordert, die Karte die ihnen auf den Leib geschrieben wurde in eigenen Worten zu beschreiben.

Es handelt sich um Landschaften, die zeitlos sind und keine Aussage über ein physiognomisch erschließbares Leben im Sinne der Mustererkennung bilden. Gleichermaßen bieten sie keine orientierenden Normgrößen an, mit deren Hilfe im Raum der Hand navigiert werden könnte. Es handelt sich also um ein körperliches Landschaftsbild, das frei von jeglicher Vereinnahmung offen bleibt für Deutungen und Assoziationen. In diesem Sinne verweigern sich die Handscapes der Hand als Projektionsfläche zum Auslesen biografischer und biometrischer Daten – die Landschaft der Handscapes bleibt ein temporärer Aggregatzustand, Raum und Zeit überlagern sich.

Ihre Verwandlung der Hände von leiblichen Gliedmaßen in Objekte der ästhetischen Reflexion basiert auf malerischen Bearbeitungen, mit denen künstlerisch-kreative Bildpraktiken mit topografischen Verfahren der Vermessung und Darstellung der Erdoberfläche in einen produktiven Dialog versetzt werden. In einem ersten Schritt fokussiert sie die Innenseiten von Handflächen und transformiert diese in einen Malgrund. Im künstlerischen Prozess des Bemalens verändern sich die Hände und verlieren ihre leibliche Selbstverständlichkeit als Werkzeug der Welterschließung. Indem die Hände von einem zielgerichteten Organ in ein Bild übersetzt werden, verwandelt die künstlerische Intervention von Andorrer das menschliche Greiforgan in ein skulpturales Objekt. Die Werkreihe Handscapes macht aus einer sich im dreidimensionalen Raum orientierenden Hand eine zweidimensionale Bildfläche. Doch im gleichen Moment wird aus der zweidimensionalen Bildfläche der Hand wiederum ein Bild mit Tiefenwirkung. In diesem Moment entsteht eine kartografische Ansicht der Hand und die Handfläche erhält eine künstlerische Topografie, die ein Nachdenken über Fläche (Boden) und Karte in Gang setzt. Sowohl Landschaften als auch die Methoden, Landschaft zu vermessen und mit geeigneten Methoden darzustellen, sind nicht unschuldig. Kartografisch erfasste Territorien vermitteln Machtansprüche und Herrschaftsordnungen. Ist die Hand für die Chirognomiker noch das Apriori jeder Lebensorientierung, so ist für Andorrer die Hand ein Ort, an dem der Versuch unternommen wird, ein Territorium von Zugehörigkeiten und Identitäten zu errichten. In ihrer Arbeit versucht sie, die scheinbar stabilen Gefüge des Territoriums und seiner Grenzen aufzulösen, um an seiner Stelle fließende Grenzen und offene Landschaften zu setzen. Die Handscapes unterlaufen den territorialen Rationalismus der Karte, indem sie die Karte in ein Bild übersetzen und verdeutlichen, dass auch die Landschaftsvermessung und -darstellung von körperlichen Metaphern durchdrungen ist.8 Sie versuchen nicht, das Gebiet der Hand territorial einzuhegen, sondern verfolgen vielmehr künstlerische Strategien der Deterritorialisierung, um die kartographische Territorialisierung der Hand (Muster, Normwerte, Durchschnittsgrößen) mit temporalisierenden Gegenstrategien zu konfrontieren.

Die Landschaften der Handscapes wurzeln nicht einfach auf einem natürlichen Terrain, um dann Gebirge, Täler, Wälder und Wiesen auf die Handflächen aufzutragen. Sie folgen nicht der Logik der Territorialität, die Rainer Guldin in seinem Buch „Politische Landschaften“ eindrucksvoll beschreibt: „…vom Festen zum Flüssigen, Ephemeren und Formlosen …, von Gebirgen und Felsen über Wälder und Flüsse, hin zu boden- und wurzellosen Luftgebilden“ (FUSSNOTE). Man könnte die Handscapes als künstlerischen Versuch verstehen, die Landschaft von ihren physikalischen Gesetzmäßigkeiten abzulösen, um das Bild einer imaginären Landschaft entstehen zu lesen, die befreit und offen in der Luft schwebt. 9

Die Handscapes führen das Momentum in die Landschaftsästhetik ein: sie sind persönliche Momentaufnahmen; sie erzählen von der Vergänglichkeit des Gegenstands, denn jede Landschaft vergeht und bildet keinen Boden der Welterschließung; sie erzählen aber auch von der Vergänglichkeit künstlerischer Medien und Verfahren, deren eigentlicher Verdienst es ist, Spielräume zu eröffnen und Lücken zu hinterlassen.

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1) Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, Berlin 2007, IV 10, 687a 8-10.
2) André LeroiGourhanHand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980.
3) Marco Wehr/Martin Weinmann (Hg.): Die Hand. Werkzeuge des Geistes, München 2005, S. 340.
4) Johann Abraham Jacob Höping: Institutiones Chiromanticae, Oder Kurtze Unterweisung, wie man ein gründlich Judicium auß den Linien, Bergen, und Nägeln der Hände, und denn aus der Proportion des Gesichts mit den Händen kan suchen, und gar genau das Jahr, Monath, Wochen und Tage sehen, in welchen einen was Glück- oder Unglückliches bevorstehet[…],Jena 1673.
5)  Johann Ingeber: Chiromantia, metoposcopia & physiognomia curioso-practica, oder kurtze Anweisung, wie man aus den vier Haupt-Linien in der Hand, wie auch auss den Adern auff der Hand von dess Menschen Gesundheit und Kranckheit, Glück und Unglück muthmässlich judiciren oder urtheilen kan[…], Frankfurt 1692.
6)  Paul Virilio: Krieg und KinoLogistik der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 1986.
7) Francis Galton:Fingerprints, London 1892; Decipherment of blurred fingerprints, London 1893.
8) Vgl. Rainer Guldin: Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität,Bielefeld 2014.
9) Ebda. S. 18   


Ramón Reichert (Dr. phil. habil.),  2009-13 Professor für Digitale Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Seit 2013 ist er Studiengangsleiter und Koordinator des postgradualen Masterstudienganges „Data Studies“ an der Donau-Uni Krems. Seit 2014 ist er als leitender Herausgeber der internationalen. Fachzeitschrift „Digital Culture & Society“  (http://digicults.org/) tätig.

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