SIE IST NOCH NICHT TOT!
Ein Klimamärchen

von Ruth Cerha


Prolog

Eine Polizeiwache unbekannten Standorts.

Der Beamte (in Folge B. genannt): Name?

Eine junge Frau mit schwarzen Haaren und sehr weißer Haut (in Folge S. genannt): Schneewittchen.

B: Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?

S: Das darf nur der Prinz.

B: Finden Sie das witzig?

S: Sie haben recht, die Sache ist zu ernst.

B: Na also. Name?

S: Snow Witness.

B: Naja, Namen kann man sich nicht aussuchen. Vorname?

S (überlegt kurz): Snow.

B: schüttelt den Kopf: Eltern …

S: Wem sagen Sie das.

B (tippt und murmelt): Snow Snowitness.

S (zunehmend ungeduldig): Nein. Vorname Snow, Nachname Witness, wenn Sie den Namen
schon teilen müssen.

B: (sieht verwirrt auf): Wollen Sie ihren Vornamen ändern?

S: Nein, ich möchte eine Anzeige machen.

B: Wer soll denn angezeigt werden?

S: Die G7.

B: Wer?

S: Die Sieben Obersten Giganten. Schon mal von ihnen gehört?

B: Nö. Wollen Sie nicht lieber die böse Stiefmutter anzeigen? (Kichert)

S: Verschwenden Sie nicht unsere wertvolle Zeit mit Klischees! Es ist 5 nach 12.

B: Leider nein. Sonst wär ich in Mittagspause.

S (schnaubt): Können wir jetzt weitermachen?

B (brummend): Schon gut. Namen der Herren?

S: (verdreht die Augen): Es sind nicht ausschließlich Herren, aber fast – leider. Scholz, Olaf.
Macron, Emmanuel. Meloni, Georgia. Kishida, Fumio. Trudeau, Justin. Sunak, Rishi. Trump,
Donald.

B: Der letzte Name kommt mir bekannt vor.

S: Klar. Ist ja auch ein verurteilter Verbrecher.

B: Wozu wollen Sie ihn dann noch anklagen?

S: Vielleicht stecken sie ihn dann endlich ins Gefängnis.

B: Und die anderen? Auch so üble Gesellen?

S: Blender! Versprechen das Blaue vom Himmel und halten es nicht ein!

B: Heiratsschwindler?

S (immer wütender): Mein Gott, können Sie nicht eine schöne Frau anschauen ohne ihre mittelalterlichen Denkmuster auszupacken? Diese Menschen haben Umweltsünden unfassbaren Ausmaßes und ihre Folgen zu verantworten! Sie lassen zu, dass die fossile Energiegewinnung weitergeht, dass riesige Waldflächen gerodet werden. Nirgendwo kann ich mich mehr vor der Sonne verstecken …

B (unterbricht S., betrachtet sie abschätzig mit zusammengekniffenen Augen): Na, ein bisschen Sonne könnte Ihnen aber nicht schaden.

S (wild gestikulierend und inzwischen ziemlich laut): Sind Sie noch zu retten? Die Sonne ist viel zu aggressiv, das müssen Sie doch wissen, wegen der übermäßigen Emission von Treibhausgasen, denen die Politik nicht Einhalt gebietet! Die Wälder, die noch da sind, brennen! Ich verbrenne, sobald ich rausgehe! Und kein Regen, oder aber Überschwemmungen …

B: Beruhigen Sie sich, sonst muss ich einen Kollegen bitten, Ihnen vorübergehend Handschellen anzulegen. Zu meinem Schutz.

S: Den könnten Sie brauchen, Sie gehen mir nämlich gehörig auf die Nerven. Aber Ihr Kollege fasst mich nicht an, haben Sie gehört? Ich lasse mich nur von einer Frau anfassen.

B (grinst süffisant): Soso … na, vielleicht sollte ich doch Ihre Stiefmutter verständigen.

S: Jetzt hören Sie doch auf mit meiner Stiefmutter, Sie sind ja richtig besessen von ihr! Kein Wunder, das hat sie echt drauf – dass ihr alle Männer verfallen. Aber ich sag Ihnen was: Sie werden Sie nicht erreichen. Die liegt nämlich mal wieder unterm Messer. Lässt sich zum ich weiß nicht wievielten Mal liften. Wollen Sie wirklich so eine Frau?

B (plötzlich streng): Sie gehen zu weit, hören Sie? Ich glaube, ich muss Sie der Staatspolizei melden. Das klingt mir alles sehr aufrührerisch –

S (unterbricht ihn, mit Genugtuung): Gute Idee, machen Sie das! Dort nimmt man mich wenigstens ernst.


Zwei Jahre später:

+++BREAKING NEWS+++G7 RECHTSKRÄFTIG VERURTEILT+++SNOW WITNESS NACH ATTENTAT IN LEBENSGEFAHR+++

Heute Mittag um 13:13 MEZ wurde am Internationalen Gerichtshof im Friedenspalast in Den Haag ein sensationelles und in der Geschichte einmaliges Urteil verkündet. Angeklagt waren die sogenannten G7, Klägerin war die neue Galionsfigur des Klimaschutzes, Snow Witness, allgemein besser bekannt unter ihrem vormaligen Namen Snow White oder Schneewittchen – sie änderte ihren Namen schon zu Beginn ihres öffentlichen Engagements, „um in einem symbolischen Akt mit den Märchen aufzuräumen“, wie sie sagte. Jenen Märchen, die laut Anklageschrift seit Jahren der Bevölkerung erzählt wurden und damit sowohl das wahre Ausmaß des Klimawandels verschleierten als auch die Maßnahmen sowie deren Wirksamkeit, die vonseiten der Sieben Obersten Giganten bisher dagegen gesetzt wurden, beschönigten.

Schon seit dem frühen Morgen bildeten sich beeindruckende Menschenmengen in der Gegend rund um das Gerichtsgebäude: umweltbewegte Bürger:innen, Vertreter:innen von Umweltschutzorganisationen, Klimaaktivist:innen, Anhänger:innen diverser Grünparteien, Klimaleugner:innen, Flacherdler, Impfgegner:innen, Identitäre, Anhänger:innen diverser Rechtsparteien sowie zahlreiche Schaulustige campierten auf den Plätzen und Grünflächen und blockierten die Straßen. Parolen wurden skandiert und Transparente geschwenkt.

THE DINOSAURS THOUGHT THEY HAD TIME TOO!
DIE ERDE IST HOTTER ALS MEIN BOYFRIEND!
MEIN GUMMIBAUM BRAUCHT CO2!
KLIMA IST WIE BIER: WARM IST SCHEISSE!
TEMPO 200 FÜR EUROPA!
THE SEASONS ARE MORE IRREGULAR THAN MY PERIOD!
SOLL ICH ZU FUSS NACH MALLORCA GEHEN?
UNSERE KLIMAPOLITIK IST SO TRAURIG WIE DIESES SCHILD!
DIESMAL RÄUMT WALL-E NICHT AUF!
HEUTE FRÜH WAR MIR KALT!


Unterhalb der Transparente gab es unerwartete Schulterschlüsse und heftige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Lagern, die Stimmung war aufgeheizt wie das Klima selbst, es wurde gebrüllt und gedroht. Die örtliche Polizei schickte eine eigens ausgebildete, mit Schild und Visier, Tränengas und klebstofflösenden Substanzen ausgerüstete Spezialeinheit, die All Days for Order, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Einige Rettungswagen waren ebenfalls vorsorglich anwesend.

Währenddessen sprach Snow Witness vor Gericht von einer Scheinwelt, die nach wie vor mit schamlosen Lügen aufrecht erhalten werde – bis zu ihrem unvermeidlichen Untergang, falls nicht unverzüglich eine radikale Wende und Abkehr vom fossilen Lebensstil herbeigeführt würde. Der Prozess wurde von Hasspostings ungekannten Ausmaßes gegen Snow Witness auf der Social-Media-Plattform Rantbook und dem asozialen Netzwerk Gross Social begleitet. In Rundfunk und Fernsehen verdrängte die Berichterstattung zeitweise die herrschenden Kriege, die Zeitungen berichteten von Morddrohungen gegen Snow Witness und vermuteten hinter diesen und/oder der Anklage – je nach Ausrichtung des Mediums – ihre Stiefmutter, die nach dem altersbedingten Ende einer erfolgreichen Modelkarriere und ein paar unbedeutenden Rollen in B-Movies nach medialer Aufmerksamkeit lechze. Von Manipulation ihrer psychisch labilen Ziehtochter war die Rede, andere Medien orteten eine Instrumentalisierung der blutjungen, weißhäutigen Aktivistin durch Lobbyisten der Sonnenschutzindustrie. Snow Witness selbst dementierte alle diese Gerüchte und wies darauf hin, dass sie nach Auseinandersetzungen mit ihrer Stiefmutter, die sie zu einer Nasen-OP hatte zwingen wollen, aus freien Stücken in den Wald gegangen sei, um dort im Einklang mit ihrer wahren Mutter, der Natur, zu leben. Zudem böte ihr der Wald ausreichend Schutz vor der aggressiven Sonneneinstrahlung und der mittlerweile lebensbedrohlichen Hitze. Als der Wald gerodet werden sollte, um einer Rinderweide Platz zu machen, richtete sich Snow Witness in einer spektakulären Protestaktion –BEUTE berichtete – in der Krone einer steirischen Eiche häuslich ein und weigerte sich, wieder herunter zu kommen. Unterstützt und versorgt von Klimaaktivisten hielt sie 77 Tage lang durch, während sich ein wütender Mob aus Familienangehörigen der Holzarbeiter und Viehbauern unter der Schirmherrschaft des Försters zusammenrottete und drohte, Snow Witness vom Baum zu schießen wie die Taube vom Dach.

Doch das tragische Attentat kam viel später und aus unerwarteter Richtung. Emotional überwältigt vom Erfolg des Prozesses verließ Snow Witness – die Hand zum Peace-Zeichen erhoben – das Gerichtsgebäude, wo sie nicht nur von begeisterten Anhängern und wütenden Demonstranten begrüßt wurde, sondern auch von einem als überdimensionaler Apfel verkleideten jungen Mann, scheinbar Werbeträger für eine auf seinem Kostüm angepriesene bekannte Bio-Lebensmittelmarke. In ihrer euphorischen Stimmung nicht auf der Hut und einigermaßen hungrig von der anstrengenden Verhandlung nahm Snow Witness den von ihm publikumswirksam dargebotenen, überaus appetitlich aussehenden Apfel entgegen und schlug ihre schneeweißen Zähne tief in das Fruchtfleisch.

Nur Sekunden später sank die junge Frau bewusstlos zu Boden. Schreie ertönten, Tumult brach aus, die Polizisten nahten im Laufschritt, die Waffen im Anschlag. Doch als sie ankamen, fehlte von dem mysteriösen Apfelmann bereits jede Spur. Ein Arzt eilte herbei, fühlte den Puls der Heldin – er war langsam, aber deutlich vorhanden – berührte sie am Arm, legte die Hand auf ihre Stirn, brauchte sie in Seitenlage – irgendjemand schrie: Finger weg! – versuchte mit ihr zu sprechen, doch sie reagierte nicht. Rettungsleute bahnten sich mit einer Bahre ihren Weg, doch gleichzeitig teilte sich an anderer Stelle die aufgeregte Menge, die wie auf Kommando verstummte und ein Spalier bildete. Hindurch schritten sieben Frauen und ein Mann sehr unterschiedlichen Alters in langen roten Gewändern, die einen gläsernen Sarg trugen, in dem mehrere große Baumblätter lagen. Sie waren kunstvoll bemalt und mit Perlen und Stickerei reich verziert. Aus unerfindlichen Gründen unbehelligt stellten die Rotgewandeten den Sarg neben Snow Witness ab, öffneten den Deckel, hoben mit großer Sorgfalt die Blätter heraus, betteten die scheinbar Leblose hinein, drapierten ihr schwarzes Haar, bedeckten sie mit den Blättern und schlossen den Deckel. Niemand hinderte sie daran, Polizei, Rettungsleute und Arzt waren wie versteinert, Demonstranten und Schaulustige beobachteten ruhig die Szene. Die acht Frauen schulterten den Sarg und trugen ihn in Richtung Straße. Währenddessen begannen sie eine Art Mantra zu rezitieren, das von den Umstehenden nach und nach aufgenommen und mitgesprochen wurde. Als stünden sie unter einem Zauber, folgten sie dem Sarg in einer Prozession, der sich mehr und mehr Menschen anschlossen.

Fleisch und Blut
Körper zu Erde
Ast zu Stamm
Wasser zu Wurzel
Blatt zu Boden
Puls und Atem
Feuer zum Herd
Wind zum Samen
Korn zu Knochen
Regen zum Feld

Wie eine Beschwörung lag der vielstimmige Klang dieses neuartigen Gebets über der Stadt. Der Verkehr lang lahm. Menschen stiegen einfach aus ihren Autos, ließen sie stehen, wo sie waren und gingen mit den anderen hinter dem Sarg her, in dem Snow Witness, immer noch ohne Bewusstsein, unter den Blättern lag.

Licht und Stern
oben zu unten
Tag zu Nacht
unten zu oben
Weh zu ach
Haut und Herz
Fluss zu Ader
Bauch zur Welt
Leben zu Vulva
Luft zu Leben

Immer mehr Menschen folgten dem Ruf, der sich in unregelmäßigen Abständen aus dem Mantra der Menge erhob: SIE IST NOCH NICHT TOT! SIE IST NOCH NICHT TOT!

Viele verließen ihre Büros, schlossen ihre Geschäfte, um die Prozession zu begleiten. Leere Straßenbahnen und Busse standen verwaist in ihren Stationen. Das Leben in der Stadt stand still.

Die Regierung tagte ununterbrochen, die Parteien beschuldigten sich gegenseitig.

In dieser Hinsicht alles wie immer.

Doch die Prozession schritt weiter voran …


Sonne und Himmel
All zu Planet
Hülle zu Kern
außen zu innen
Frucht zu Schale
groß zu klein
Mond und Meer
Welle zu Sand
Teilchen zu Welle
Stein zu Staub
nichts zu etwas

…………………………………………………….
SIE IST NOCH NICHT TOT! Ein Klimamärchen wurde 2025 erstmal öffentlich vorgestellt im Rahmen der Ausstellung Sleeping Leaves im Botanischen Garten der Universität Wien.
Der Text ist verwendbar für die Berichterstattung über Sleeping Leaves unter Angabe des Titels und des Copyrights: Ruth Cerha 2024.


Ruth Cerha wurde 1963 in Wien geboren. Nach einer klassischen musikalischen Ausbildung (Klavier, Violine, Tonsatz) studierte sie Psychologie, arbeitete mit verschiedenen Bands, komponierte fürs Theater und für Kunstprojekte. Seit 2005 schrieb und veröffentlichte sie einen Erzählband, vier Romane (zuletzt Traumrakete, FVA 2018), Gedichte, Kurzgeschichten sowie Texte über Kunst und Psychologie. In den letzten Jahren widmet sie sich vermehrt der freien musikalischen Improvisation und arbeitet interdisziplinär im Feld zwischen bildender Kunst, Literatur, Musik und Performance, u.a. mit Claudia Märzendorfer (Für die Vögel, 2019), Eva Wolfram-Ertl (Painted Music, 2021), Manu Tober (Licht der Menschheit, 2022), Florian Sedivy (Entpuppung und I am structure, 2022, Heimspiel, 2024), Edith Lettner und Christian Reiner (Urgent Poetry, 2024). Zur Zeit arbeitet sie an einem musikalischen Stationentheater (Die Nacht weiß nicht vom Tage, Uraufführung November 2025).

Related Images: